oktober 2021
Das einfach schöne
OHNE ORNAMENT UND FARBE. STILBILDENDE SERVICE AUS DEM SCHAUMAGAZIN DES FOCKE-MUSEUMS
Von Dr. Uta Bernsmeier
„Über Geschmack lässt sich nicht streiten“, heißt es, und doch war er auch in der Vergangenheit Gegenstand leidenschaftlicher Diskussionen. Ob man nun barocke Formen oder exotische Dekore favorisierte, der „gute Geschmack“ war im Kunstgewerbe immer ein Kind seiner Zeit. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit einem auch moralisch konnotierten Aspekt, der Suche nach der Schönheit im Einfachen.
Johann Wolfgang Goethe beschreibt in seinem 1803 fertiggestellten Trauerspiel „Die natürliche Tochter“ einen Disput zwischen der Titelheldin und ihrer Erzieherin. In dieser Auseinandersetzung geht es um nichts weniger als um ästhetische Grundsatzfragen. Hier nämlich beharrt die illegitime Fürstentochter Eugenie auf ihrer altersentsprechenden Vorliebe für Dekoratives mit dem häufig zitierten Satz: „Das einfach Schöne soll der Kenner schätzen; Verziertes aber spricht der Menge zu.“
Es ist offensichtlich: Die Protagonistin hält es mit der Mehrheitsmeinung. Die Erzieherin hingegen scheint mit ihren Antworten nicht nur die Bescheidenheitsideale des Biedermeiers auf den Punkt zu bringen, sondern auch die Ideologie von Bauhaus und Werkbund zu antizipieren: „Aus Mäßigkeit entspringt ein reines Glück“, sagt sie und wenig später „Beschränktheit sucht sich der Genießende“. Solche Assoziation zu den geschmacksbildenden Institutionen des frühen 20. Jahrhunderts ist nicht abwegig. Die dinglichen Hervorbringungen der frühen Biedermeierzeit galten nämlich rund einhundert Jahre später als Referenzobjekte vorbildlichen Handwerks; sie überzeugten durch ausgeprägtes Bewusstsein für Materialschönheit und die Vorliebe für einfache, geometrische Grundformen.
Im Schaumagazin des Focke-Museums sind einige Serviceteile aus dickwandigem, schlicht weißem Porzellan ausgestellt, die weitgehend auf dekorative Elemente verzichten. Die eiförmigen Tassen haben schalenförmige Untertassen, aus denen der Kaffee vermutlich getrunken wurde. Eiförmig sind auch die jeweils auf gedrungenem Glockenfuß stehenden Gefäßkörper von Kannen und Zuckertopf. Letzterer zeigt mit dem Pinienzapfen als Deckelknauf und den Maskarongriffen Gestaltungselemente des Klassizismus. Der hochgezogene Henkel des Milchkännchens und die Tülle der Kaffeekanne mit einem in den 1950er-Jahren ergänzten Deckel enden in Schlangenköpfen. Kann man nun in diesem rein funktional begriffenen Porzellangeschirr einen Kronzeugen für die viel beschriebene Bürgertugend biedermeierlicher Selbstbescheidung erkennen? Angesichts der zahlreichen im Haus Riensberg präsentierten Sammeltassen mit farbigen Ansichten und naturalistischen Blumen, mit goldgemalten Ornamenten und Sinnsprüchen wohl kaum.
Das Geschirr mit insgesamt 13 Kaffeetassen stammt aus dem Bremer St. Catharinenstift. Hier wohnte eine Gemeinschaft von Beginen, also von unverheirateten Frauen, die sich einem gottesfürchtigen Leben verschrieben hatten, freilich ohne Ordensgelübde. Wirtschaftlich durch eigenes Geld und Zustiftungen unabhängig, unterwarfen sie sich gleichwohl einem strengen Reglement, das keinen Zweifel an ihrer Ehrbarkeit aufkommen ließ. 1821 wurde anstelle ihres alten baufälligen Hauses am Schüsselkorb unter dem Namen Catharinenstift „für 16 unbescholtene Jungfrauen über 40 Jahre alt“ ein neues Gebäude eingeweiht. Aus dieser Zeit dürfte auch das Porzellangeschirr stammen, dessen Kargheit wohl kaum materieller Armut geschuldet ist; eher ist es Ausdruck calvinistischer Entsagungsethik, welche den Lebensalltag der frommen Frauen prägte.
Mit „Biedermeiersachlichkeit“ hat man gelegentlich solche puristisch anmutenden Gegenstände des täglichen Gebrauchs bezeichnet. Als formalästhetischer Begriff erlaubt diese Bezeichnung eine Verbindungslinie zur „Sachlichkeit“ der 1930er-Jahre, die mustergültig in den Porzellanservicen von Hermann Gretsch und Trude Petri realisiert war. Sie sind gewissermaßen ein Beleg für die Popularisierung des „einfach Schönen“, welches man so aus der Sphäre des elitären Kennertums geholt hatte. Die Sachlichkeit der 1930er-Jahre hatte als Formprinzip ihren geistigen Nährboden bereits in den programmatischen Standortbestimmungen des 1907 gegründeten Deutschen Werkbundes. Diese Vereinigung von Entwerfern, Architekten und Kunstgewerblern wollte vor allem volkserzieherisch wirken und die Geschmacksbildung als ein moralisches Anliegen für alle gesellschaftlichen Schichten vorantreiben. „Und so ist Kunst nicht nur eine ästhetische, sondern zugleich eine sittliche Kraft“, lautet ein Kernsatz im Gründungsmanifest des Werkbundes.
Anders als die Reform- und Stilkunstbewegung der Jahrhundertwende stand der Werkbund moderner Maschinenarbeit und industrieller Fertigung grundsätzlich positiv gegenüber. Hier ging es vorrangig darum, der industriellen Produktion einen kulturellen Rahmen zu geben, d.h. Strategien für die Durchsetzung der Moderne auf einem sicheren geistigen Fundament zu entwickeln.
Neben der „Sachlichkeit“ wurde die „Schlichtheit“ zur essentiellen Kategorie des neuen Kunstverständnisses. Die intellektuelle und künstlerische Avantgarde bekannte sich zur Form ohne Ornament, die für den österreichischen Architekten Adolf Loos gleichbedeutend war mit „Evolution der Kultur“. Einen solchen Grundsatz haben sich die ökonomisch wohl versorgten Purismus-Apologeten zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerne zu eigen gemacht. In industrieller Produktion ließen sich solch hehre Ansprüche freilich nicht umsetzen.
Um einem breiten Publikum zu gefallen musste der strenge Formalismus der Systemzeit, also der Weimarer Jahre, aufgelockert werden. Zur Formvereinfachung durch Reduktion hatte man schon im Biedermeier Gefäßkörper aus einem System geometrischer Grundformen entwickelt und dabei gleichzeitig die erkannte Gefahr der Monotonie durch spannungsreiche Silhouetten umschifft.
Ähnliches ist Trude Petri mit ihrem für die KPM entworfenen Service „Urbino“ gelungen und mit noch nachhaltigerem Erfolg Hermann Gretsch mit seinem 1931 für Arzberg entwickelten und bis heute produzierten Service „Form 1382“. Dessen Grundhaltung erinnert an das Porzellan aus dem St. Catharinenstift, im ovoiden Körper der Kaffeekanne und dem helmförmigen Ausguss des Milchkännchens zeigt sich sogar eine große Nähe. Ohne jeden asketischen Anspruch hat sich das Arzberger Porzellan über die Jahrzehnte eine Aura behaglicher Gediegenheit erhalten, die man gemeinhin mit dem Begriff „guter Geschmack“ verbindet.